Robert Kaplan befürwortete vor 20 Jahren den Irakkrieg – es stürzte ihn in eine Depression (2024)

Interview

Der einflussreiche amerikanische Publizist Robert D.Kaplan hat vor zwanzig Jahren den Irakkrieg befürwortet. Seine Fehleinschätzung stürzte ihn in eine Depression und brachte ihn dazu, sich über das Wesen von Anarchie Gedanken zu machen.

Erika Burri

8 min

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Robert Kaplan befürwortete vor 20 Jahren den Irakkrieg – es stürzte ihn in eine Depression (1)

Herr Kaplan, lassen Sie uns mitten ins Geschehen eintauchen: 2004, ein Jahr nach der Invasion der amerikanischen Truppen, waren Sie als Korrespondent zurück im Irak; ein einschneidendes Erlebnis?

Einschneidend und erschütternd, ja. Denn ich war ein Befürworter des Irakkriegs gewesen. Und nun war ich mit den Marines, den amerikanischen Elitesoldaten, in der irakischen Provinz Anbar als eingebetteter Journalist unterwegs. Ich wurde Zeuge der ersten Schlacht um Falluja im April 2004. Und da habe ich etwas gesehen, was weit schlimmer war als das, was mir vorher im Irak begegnet war: Anarchie.

Wie fühlt sich Anarchie an?

Da waren überall Rebellen mit Waffen, Artillerie-Einschläge und Autobomben, die hochgingen. Es gab kein Schlachtfeld, das den Krieg eingrenzte. Der Krieg war schlicht überall, und es fühlte sich so an, als kämpften alle gegen alle. Ich hatte Anarchie, also die Abwesenheit einer Ordnungsmacht, auch in meiner Zeit als Journalist in den 1990er Jahren in Westafrika erlebt. Als ich damals Freetown, die Hauptstadt von Sierra Leone, verliess, gab es Strassensperren, und ich musste damit rechnen, in einen Hinterhalt zu geraten. Ich spürte, da ist man auf sich allein gestellt. Das war einschüchternd. Aber es war kein Vergleich zu dem, was ich im Irak erlebte und was mir die Menschen vor Ort erzählten.

Was haben Ihnen die Menschen erzählt?

Sie erzählten mir von dieser Unberechenbarkeit. Dass man niemandem mehr trauen konnte. Und von der Willkür, die überall lauerte – noch viel stärker als zu Saddams Zeiten. Das hat mich nicht nur zum Nachdenken gebracht, sondern hat mich gar so stark an mir und meiner Analysefähigkeit zweifeln lassen, dass ich depressiv wurde. Wie konnte ich das alles so falsch einschätzen?

Wie konnten Sie?

Der Irak war für mich keine Abstraktion wie für die meisten Entscheidungsträger in Washington. Ich kannte das Land sehr gut. Als ich in den 1980er Jahren durch den Irak reiste, habe ich die brutalste Diktatur gesehen, der ich je begegnet bin.

Was bedeutete das?

Robert Kaplan befürwortete vor 20 Jahren den Irakkrieg – es stürzte ihn in eine Depression (2)

Am Flughafen begegnete man schwerbewaffneten Sicherheitskräften, und auf jeder grossen, leeren, vertikalen Fläche hing ein riesiges Bild von Saddam Hussein. Das Regime durchdrang die ganze Gesellschaft, die Angst war fast greifbar, und niemand konnte etwas gegen das Regime sagen. Folter soll fast im industriellen Massstab praktiziert worden sein. 1986, als ich über den iranisch-irakischen Krieg berichtete und die mit Giftgas ermordeten Körper sah, wurde mir bei der Einreise sogar der Pass abgenommen. Diplomaten sagten, dass sie nichts für mich tun könnten, wenn das Regime mir gegenüber misstrauisch werden sollte. Das einzige Regime, mit dem ich den Irak vergleichen konnte, war Ceausescus Rumänien, eine ähnlich perfide Diktatur. Ich fragte mich: Was kann schlimmer sein als das? Nichts. Das veranlasste mich, den Irakkrieg zu unterstützen. Ich habe mich getäuscht.

Damals haben Neokonservative die Regierung zur Irak-Invasion gedrängt. Waren Sie einer dieser Neokonservativen?

Nein, ein Neocon war ich nie. Ich hätte mich damit abfinden können, dass Saddams Regime nach dem Sturz durch einen anderen Autokraten oder von mir aus einen Diktator vom Schlag eines Mubarak in Ägypten oder eines Musharraf in Pakistan ersetzt worden wäre. Einfach jemand weniger Brutales als Saddam. Die Neokonservativen, die Präsident George W.Bush umgaben, sahen das anders: Sie wollten nach dem Sturz eine Demokratie im Irak installieren, die als leuchtendes Beispiel den ganzen Nahen Osten hätte verändern sollen.

Eine komplette Illusion. Kritiker hatten davor gewarnt.

Eine fatale Fehleinschätzung, die auch damit zu tun hat, dass Washington zwar Diktatoren hasst, aber die Elite keine Erfahrung mit Anarchie hat. Sie haben diesen Zustand als mögliches Resultat der Invasion schlicht nicht erwogen. Aber vergessen Sie nicht: Der Irakkrieg wurde auch von Realisten wie mir unterstützt. Fast ganz Washington hat den Irakkrieg befürwortet, so seltsam das heute klingen mag.

Sie bereuen Ihre Fehleinschätzung. Sehen Sie auch in der amerikanischen Gesellschaft Reue und Einsicht?

Als die USA 2003 in den Irak einmarschierten, waren die Streitkräfte bereits eine Armee von Freiwilligen. Das war zu Zeiten des Vietnamkriegs anders. Damals galt die Wehrpflicht, und deshalb gab es auch so grosse Demonstrationen. Nach dem Krieg kam es zu grossen politischen Umwälzungen. Die amerikanischen Bürger waren dagegen vom Irakkrieg 2003 kaum betroffen. Vietnam hat 58000 Amerikanern das Leben gekostet. Im Irak kamen 8000 Soldaten und Mitglieder von privaten Sicherheitsfirmen um. Die Amerikaner haben den Irakkrieg also aus der Distanz verfolgt. In der Bevölkerung sehe ich deshalb auch wenig Reue oder Einsicht. Aber das politische Washington hat die Irak-Invasion verändert.

Inwiefern?

Sie hat dazu beigetragen, dass Realisten mehr und mehr zu Isolationisten wurden. Die Irak-Invasion hat innerhalb der Republikanischen Partei zudem zu einer Spaltung geführt zwischen Neokonservativen und traditionelleren Republikanern.

Ist der Anschlag vom 11.September 2001 eine hinreichende Erklärung dafür, dass die Analysefähigkeit einer ganzen Generation von Emotionen überschattet worden ist?

Ohne 9/11 hätte es den Irakkrieg nicht gegeben. Der Anschlag versetzte die Bush-Administration in Panik. Die Angst vor einer zweiten Attacke ging um. Die Administration hatte das Gefühl, versagt zu haben. Sie hatte das Land nicht schützen können vor dem grössten Angriff auf das amerikanische Festland seit Pearl Harbor 1941. Die Entscheidung, in den Irak einzumarschieren, wurde in diesem Zustand der Angst getroffen. Es war eine sehr emotionalisierte Zeit. Und es herrschte das Gefühl, dass die Intervention 2001 in Afghanistan, wo sich die Drahtzieher der Terrorattacke versteckt hielten, nicht genug war. Nein, es musste mehr geschehen, weil das Ereignis so unglaublich zerstörend war.

Entscheidungsträger hätten die Fähigkeit verloren, tragisch zu denken, schreiben Sie in Ihrem Buch «The Tragic Mind». Was heisst das, tragisch denken?

Mit tragisch denken meine ich, dass man in der Entscheidungsfindung versucht, Tragik zu verhindern. Dafür muss man zuerst verstehen, was die alten Griechen unter Tragik verstanden.

Tragik, also ein Unglück?

Unglück ist das, was im Leben passiert, was uns allen passiert: Dinge, die beruflich nicht gut laufen, ein Elternteil, der stirbt, eine Scheidung. Tragik, wie sie die alten Griechen verstanden haben, ist auch nicht der Kampf von Gut gegen Böse. Das wäre zu einfach. Unter Tragik verstanden sie die Einsicht und das Verständnis dafür, dass man unter mehreren schlechten Optionen eine Wahl treffen muss. Und selbst wenn sie dachten, dass sie sich für die beste aller Möglichkeiten entschieden hatten, wussten die antiken Griechen, dass es Leute geben wird, die nun leiden werden. Tragik bedeutet, dass, egal, wie man sich entscheidet, jemand die negativen Folgen zu spüren bekommt.

Bedeutet tragisch denken auch, dass man merkt, wann man einen fatalen Fehler gemacht hat?

Ja, und vor allem auch die Erkenntnis, dass es zu spät sein könnte, den Fehler noch zu korrigieren oder das Ergebnis zu beeinflussen. Tragisch denken heisst letztlich, dass man realisiert und akzeptiert, dass die Welt eben nicht perfekt ist. Irgendwo wird es immer Desaster und Traurigkeit geben. Dennoch kann tragisches Denken dazu beitragen, dass es nicht noch mehr Desaster und Traurigkeit gibt. Dazu gehört, dass man die Angst vor negativen Konsequenzen ernst nimmt. Die alten Griechen würden sagen: Es ist gut, sich vor den Konsequenzen zu fürchten. Und was die Griechen am meisten fürchteten, war die Anarchie.

Weshalb?

Weil es ohne Ordnung keinen Fortschritt und letztlich keine menschliche Zivilisation gibt. Ordnung kann anmassend sein, grenzüberschreitend und absolut zerstörend wie im 20.Jahrhundert. Wir hatten Hitler, Stalin, Pol Pot. Was die griechischen Philosophen umtrieb und was Entscheidungsträger heute noch umtreiben sollte, ist die Frage: Wie gestaltet man Ordnung, ohne dass diese herrisch wird oder völlig überbordet?

Wann ist den Entscheidungsträgern in Washington die Fähigkeit abhandengekommen, tragisch zu denken?

Ein Wendepunkt war das Ende des Kalten Krieges. Schauen Sie sich die amerikanischen Präsidenten während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit bis Anfang der 1990er Jahre an: Roosevelt, Truman und George H.W.Bush. Das waren bessere Präsidenten als jene, die nachher kamen, von Clinton bis Trump. Seit Anfang der 1990er Jahre haben wir eine Führungskrise in Washington und letztlich auch einen Mangel an Weisheit.

Was ist der Grund dafür?

Der Kalte Krieg hat von Entscheidungsträgern eine gewisse Disziplin abverlangt. Um Eskalationen zu vermeiden, musste man die Dinge durchdenken bis zum Schluss.

Sollen also Politiker einfach wieder mehr griechische Epen lesen, um bessere Entscheidungen zu treffen?

Das empfehle ich tatsächlich, und das ist auch der Grund, weshalb ich mein letztes Buch geschrieben habe. Nebst den alten Griechen empfehle ich Shakespeare und moderne Romanciers wie Dostojewski, Conrad und Camus. Auch diese haben sich die grossen Fragen des Lebens gestellt und die Tatsache behandelt, dass es im Leben meistens sehr, sehr schwierig ist, gute Entscheidungen zu treffen.

Welche Erzählung der griechischen Antike berührt Sie besonders?

Die Geschichte von Iphigenie in Aulis des griechischen Tragikers Euripides. Hier macht sich König Agamemnon mit seiner Flotte auf nach Troja. Doch beim Durchqueren der Ägäis bläst kein Wind. Man sagte ihm, die Götter seien wütend. Und um sie zu besänftigen, müsse er seine Tochter Iphigenie opfern. Stellen Sie sich vor, Sie sind König und stecken in dieser Situation. Wenn Sie Ihre Tochter nicht opfern, werden Ihre Soldaten meutern und Sie umbringen. Opfern Sie für Wind Ihre Tochter, verlieren Sie das Liebste, was Sie haben. Das ist Tragik.

Stirbt die Tochter?

Im letzten Moment erbarmt sich die Göttin Artemis. Die Geschichte zeigt mir aber, dass man Menschen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, nicht beneiden sollte. Sie haben die schwierigsten Entscheidungen zu treffen, die es gibt, und können meistens nur aus schlechten Varianten wählen.

Sie beneiden also auch Joe Biden nicht, Ihren Präsidenten?

Nein, auf keinen Fall. Biden hat bis jetzt im Ukraine-Krieg gute Arbeit geleistet. Er hat Militärhilfe im Umfang von Tausenden von Millionen Dollar an die Ukraine übermittelt und damit eine rivalisierende Grossmacht geschwächt, ohne dass er Truppen entsendet hat. Biden denkt tragisch. Er weiss, dass seine Entscheidungen Konsequenzen haben, die er so schnell nicht wieder rückgängig machen kann. Er versucht zu verhindern, dass die Nato in den Krieg hineingezogen wird und dass Putin atomare oder biologische Massenvernichtungswaffen einsetzt. Biden kämpft diesen Krieg innerhalb strikter Grenzen, die er sich auferlegt. Ich halte ihn diesbezüglich für den fähigsten Präsidenten seit Bush senior, der 1991 Truppen geschickt hat, um Kuwait von der irakischen Besatzung zu befreien, und dann das Militär wieder abzog.

Hat Biden aus den Fehlern des Irakkriegs gelernt, den er als Senator befürwortete?

Ich denke, ja. Anders als die Entscheidungsträger damals schaut er schon jetzt nach vorne und überlegt sich, wie ein Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen aussehen könnte. Der Irakkrieg hat die Biden-Administration ängstlich gemacht. Und Angst, ich wiederhole die Griechen, hat einen Sinn. Was mir aber Sorge bereitet, ist der Umgang der USA mit China.

Inwiefern?

Hier sehe ich weniger, dass Angst bremst. Ich bin sehr besorgt, dass Washington zu schnell agiert. Ein militärischer Konflikt zwischen diesen beiden hochgerüsteten Staaten würde die Finanzmärkte und somit die ganze Wirtschaft in einem Ausmass destabilisieren, dass es uns alle treffen würde. Auch hier müssen wir unbedingt tragisch denken und uns fragen: Wie können wir einen Konflikt mit China verhindern? Eine Konfrontation sollte nicht unvermeidbar werden.

Beobachter des Weltgeschehens

Robert D. Kaplan (Jg. 1952) ist ein amerikanischer Journalist, Publizist und Politik-Analytiker. Kaplan ist zudem Inhaber des Robert-Strausz-Hupé-Lehrstuhls für Geopolitik am Foreign Policy Research Institute. Als Nahost-Experte wurde er sporadisch von der Administration Bush vor und nach der Irak-Invasion um eine Einschätzung gebeten. Anfang Jahr erschien Kaplans 21. Buch «The Tragic Mind». Wie er im Vorwort schreibt, hat ihn seine fatale Fehleinschätzungüber die Irak-Invasion dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben.

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